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Hilfe für Betagte soll «Service public» werden

Der Tagesanzeiger aus Zürich schreibt, dass die Hilfe für Betagte in der Schweiz zu einem «Service Public» werden soll. Die Schweiz sei heute nicht darauf vorbereitet, dass künftig deutlich mehr betagte Menschen zu Hause betreut werden müssen.

Die Zahlen sind eindrücklich: Heute leben in der Schweiz 1,5 Millionen Rentner. Im Jahr 2045 werden es laut dem Bundesamt für Statistik 2,7 Millionen sein. Damit steigt der Betreuungs- und Pflegebedarf stark an. Bereits heute benötigen bis zu 260’000 Menschen über 65 Jahre Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags. Meist geht es um nicht pflegerische Aufgaben wie Einkaufen, Kochen oder Putzen. Zum Grossteil übernehmen dies Angehörige. Allein 2013 leisteten vorab Frauen 63 Millionen Stunden Betreuungs- und Pflegearbeit für erwachsene Verwandte und Bekannte. Gleichzeitig sind die Frauen beruflich zunehmend eingebunden, weshalb ihre Kapazitäten für die Betreuung abnehmen.

Das sind die Befunde einer Studie im Auftrag der Paul-Schiller-Stiftung. Auf diese demografische Herausforderung sei die Schweiz schlecht vorbereitet, sagt Präsident Herbert Bühl. Handlungsbedarf sieht der frühere Schaffhauser Gesundheits- und Sozialdirektor vor allem bei Betreuungsaufgaben wie Fahrdiensten, Einkäufen, Haushaltsarbeiten oder sozialer Zuwendung. Denn im Unterschied zur Pflege im Alter ist die Betreuung gesetzlich nicht geregelt. Wer nicht pflegebedürftig im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) ist, muss Betreuungsleistungen von Spitex-Diensten oder anderen Organisationen selbst zahlen, eine Zusatzversicherung haben oder auf die Unterstützung von Angehörigen und Bekannten setzen.

«Das Anrecht auf Betreuung muss auf Bundesebene gesetzlich verankert werden», fordert Bühl. Kostenpflichtige Betreuung könnten sich längst nicht alle Rentner leisten. Dabei müsse es das Ziel sein, dass Betagte möglichst lange zu Hause lebten – auch aus Kostengründen. Die Stiftung schlägt vor, den Anspruch auf Betreuung entweder im KVG zu ­regeln, die Ergänzungsleistungen (EL) auszubauen, eine neue Pflege- und Betreuungsversicherung zu etablieren oder das System der Hilflosenentschädigung weiterzuentwickeln.

Finanzierungsmodell unrealistisch

Bühl ist überzeugt, dass die Forderung politisch Resonanz finden wird. Denn das Rentenniveau sinke, womit das Risiko der Altersarmut für künftige Rentner steige. «Wir müssen beginnen, die Betreuung im Alter als Service public zu verstehen, um ein würdiges Altern zu ­ermöglichen. Diese Einsicht wird sich durchsetzen», sagt er.

Doch erste Reaktionen fallen verhalten aus. Zwar ist die Relevanz des Themas anerkannt. «Tatsächlich wird heute Betreuung im Vergleich zur Pflege zu wenig finanziert. Dabei steht zum Beispiel bei Demenzkranken die Betreuung im Vordergrund», sagt SP-Nationalrätin ­Silvia Schenker. Sozialpolitiker von links bis rechts sind sich aber einig, dass eine Finanzierung über das KVG angesichts steigender Prämien unrealistisch ist.

Auch eine Lösung über die Hilflosenentschädigung erachten sie als «systemfremd», wie BDP-Nationalrat Lorenz Hess sagt, weil diese damit auf Personen ausgeweitet würde, die nicht grundsätzlich hilflos sind.

Fehlende Bereitschaft

Gleichzeitig verweisen die Sozialpolitiker auf eine Lösung, die diese Woche im Nationalrat debattiert wird: Bei den EL soll es künftig einen Zuschlag für betreutes Wohnen geben. Die vorberatende Kommission hat sich für einen entsprechenden Antrag ausgesprochen. «Ich gehe davon aus, dass er im Nationalrat eine Mehrheit finden wird», sagt SVP-Nationalrat Thomas de Courten. Die genaue Ausgestaltung ist allerdings noch offen. Weitergehende Forderungen erachte sie nicht als realistisch, sagt CVP-Nationalrätin Ruth Humbel, die den Zuschlag für betreutes Wohnen ebenfalls unterstützt.

Grundsätzlich heisst es im bürgerlichen Lager, Modelle «auf privater, ­freiwilliger und unentgeltlicher Basis» seien gegenüber staatlichen, gesetzlichen Regelungen vorzuziehen, wie etwa de Courten sagt. Tatsächlich gibt es bereits zahlreiche Angebote, die teilweise ehrenamtlich erbracht werden und teilweise kostenpflichtig sind. Ältere Menschen finden etwa bei Pro Senectute eine Begleitung zum Spazieren, Hilfe im Haushalt oder Unterstützung für die Administration. Auch das Rote Kreuz bietet diverse Dienstleistungen dieser Art an. Viele Kirchen erhalten zudem Besuchsdienste aufrecht, und der Verein Kiss Schweiz setzt auf Zeitgutschriften: Wer jemandem Hilfe im Alltag leistet, kann sich die Stunden auf einem Zeitkonto gutschreiben lassen und sie später für sich selbst beanspruchen.

All das seien Mosaiksteine, sagt Judith Bucher von Pro Senectute Schweiz. Doch für die Zukunft – darin ist sie mit Ruedi Winkler vom Verein Kiss einig – werden sie nicht reichen, um den Betreuungsbedarf abdecken zu können. Laut Winkler muss in der Gesellschaft die Bereitschaft steigen, einen Beitrag zu leisten. Nur so werde eine Lösung möglich sein. Eine Regelung auf politischem Weg sei hingegen aufwendig und teuer.

Alles aus einer Hand

Bei Pro Senectute geht man davon aus, dass nicht nur zusätzliche Angebote nötig werden, sondern auch die Finanzierungsformen zu überdenken sind. Künftige Lösungen müssten die Betreuung und Pflege von älteren Menschen ganzheitlich betrachten, unabhängig davon, ob diese zu Hause oder im stationären Bereich von einer Tochter oder einem Spitex-Mitarbeiter erbracht werden.

Der Heim-Dachverband Curaviva schreibt, dass sich «der Mensch nicht in Pflege und Betreuung aufteilen» lasse. Nötig sei ausserdem ein einfacheres Finanzierungssystem. Wie dieses auszugestalten wäre, lässt der Verband jedoch offen. Markus Leser von Curaviva könnte sich vorstellen, dass die Unterstützung durch Freiwillige, Angehörige und Nachbarn sowie professionelle Dienstleistungen verstärkt aus einer Hand zu koordinieren wären. Die Betreuung im KVG zu regeln, findet auch er unrealistisch. Das sei politisch kaum mehrheitsfähig.

Autorinnen: Raphaela Birrer und Brigitte Walser

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