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Fundstück: «Ich will eine wilde Alte werden»

Die Zahl der Senioren steigt rasant. Trotzdem gibt es in der Altersforschung grosse Lücken. Heike Bischoff-Ferrari erklärt, wie sie diese schliessen will und warum Udo Jürgens ein Vorbild ist. (Interview: Jan Hudec), aus der NZZ vom 24.3.2015

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Heike Bischoff-Ferrari leitet den Zürcher Geriatrie-Verbund. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Wie sind Sie als junge Frau auf die Idee gekommen, in der Altersmedizin zu forschen?
Ich hatte Glück, in meiner klinischen Ausbildung in Basel meinen Mentor Hannes Staehelin kennenzulernen. Er hatte den ersten Lehrstuhl für Geriatrie in der Schweiz inne. Er hat in mir die Faszination für dieses Fach geweckt.

Und worin besteht diese Faszination?
Medizinisch gesehen ist das ein aussergewöhnlich spannendes Feld. Denn der ältere Mensch kommt nie nur mit einem einzelnen Gebrechen ins Spital. Neben den medizinischen Problemen muss man aber immer den ganzen Menschen in die Betrachtung mit einbeziehen. Die wichtigste Frage lautet: Wie erhalte ich die Selbständigkeit des Patienten? Dazu muss man sich Zeit für die Person nehmen, herausfinden, wie sie zu Hause zurechtkommt, welche Ressourcen sie hat. Es ist ein unglaubliches Geschenk, wenn man mit solcher Intensität in ein Leben blicken darf. Ausserdem gibt es kein anderes Fach, in dem mehr Forschungsbedarf besteht. Wegen der demografischen Entwicklung müssen wir dringend Fortschritte machen.

Worin sehen Sie die grössten Herausforderungen, die auf uns als alternde Gesellschaft zukommen?
Die Bevölkerungsstruktur wird sich sehr rasch verändern. Das Verhältnis von Pensionierten zu Werktätigen beträgt heute noch 1 zu 4. Bereits 2030 soll es laut dem Bundesamt für Statistik bei 1 zu 2 liegen. Das heisst, es wird mehr Personen im Pensionsalter geben, die Ansprüche an die Gesellschaft stellen, die mit einer guten Lebensqualität und hoher Selbständigkeit älter werden wollen. Die zweite Ebene ist die wirtschaftliche Produktivität, die zunehmend von älteren Menschen abhängig wird. Und drittens wird auch die Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens zu einem zentralen Problem. Zur Lösung dieser Herausforderungen gibt es einen Schlüssel: die Erhaltung der Gesundheit. Wenn ich gesünder bin, kann ich selbständig bleiben. Gesunde sind auch länger produktiv, das wird in Zukunft nötig sein. Und im Gesundheitssystem lässt sich am besten sparen, wenn die Bevölkerung gesund ist.

Die Menschen gesund zu halten, ist ja heute schon das Ziel der Medizin. Was müsste sich verbessern?
Heute behandeln wir in erster Linie Erkrankungen. In Zukunft müssen wir die Prävention verstärken, und das ist das Schwierigste in der Medizin. Denn wer sich gesund fühlt, ist viel schwerer dazu zu bewegen, etwas für seine Gesundheit zu tun. Unser Ziel muss sein, Schwachpunkte früher zu erkennen und zu versuchen, diese zu beheben. Das ist auch eine wichtige Aufgabe der modernen Geriatrie. Schon 50- und 60-Jährige sollten sich einmal gründlich untersuchen lassen und überlegen, mit welchen Massnahmen sie gesund altern können.

Die persönlichen Vorteile liegen auf der Hand. Aber wie soll es die Kosten im Gesundheitswesen senken, wenn die Leute noch älter werden? Schliesslich stirbt ja niemand gesund. Und die grossen Kosten entstehen am Lebensende.
Unsere Vision ist es nicht, die Lebenserwartung zu erhöhen. Wir sind eine alternde Spezies. Es gibt einen Punkt, an dem die Biologie versagt. Uns geht es darum, die gesunde Lebenserwartung zu erhöhen. Wir wollen zum Beispiel Stürze und damit Hüftbrüche verhindern, die oft zu einem Verlust der Autonomie führen. An den Folgen leiden die Betroffenen mitunter jahrelang. Neben dem menschlichen Leid verursachen Hüftbrüche aber auch ungeheure Kosten. Sie zu verhindern, lohnt sich deshalb auch aus Sicht der Gesundheitsökonomie. Unser Ziel ist es, möglichst alle chronischen Erkrankungen ans Lebensende zu komprimieren. Udo Jürgens ist gewissermassen der Prototyp dafür: Er stand bis an seinem letzten Tag mitten im Leben.

Sie leiten die europaweit grösste Studie in der Altersforschung. Was sind die Ziele der Do-Health-Studie?
Wir klären in dieser Studie, inwieweit Vitamin D und/oder Omega-3-Fettsäuren und/oder ein einfaches Trainingsprogramm einen Beitrag zur Erhöhung der gesunden Lebenserwartung leisten. Das heisst konkret, ob diese Massnahmen für sich oder in Kombination das Knochenbruchrisiko senken, die Muskelfunktion erhalten, den Blutdruck positiv beeinflussen, das Infektionsrisiko senken und die Gedächtnisfunktion erhalten. Wir untersuchen dazu in aufwendigen Visiten alle wichtigen Organfunktionen. Do-Health ist ein Herzstück der modernen Altersforschung. Der ganze Mensch und seine Funktionalität werden erfasst. Nicht nur eine Organfunktion oder eine Erkrankung interessieren uns, sondern fünf verschiedene. Wenn man den Beobachtungsdaten glaubt, dann können diese drei Strategien das physiologische Altern bezogen auf verschiedene Organfunktionen hinauszögern. Das wollen wir nun belegen. In Pilotstudien zum Einfluss von Vitamin D auf das Sturzrisiko konnten wir bereits zeigen, dass Vitamin D etwa jeden dritten Sturz und jeden dritten Hüftbruch vermeiden kann. Wir konnten auch in Vorstudien zu Do-Health die direkte Wirkung von Vitamin D an der Muskulatur belegen und den spezifischen Rezeptor in der Muskulatur erstmals bei Menschen identifizieren.

Sie wollen die Menschen mit einfachen und kostengünstigen Massnahmen gesünder machen. Spüren Sie Widerstand gegen Ihre Forschung? Schliesslich lässt sich mit Mitteln gegen Altersgebrechen viel Geld verdienen.
Ja, ich spüre Widerstand. Im Schwäbischen sagt man: «Koscht nix, isch nix.» (Lacht.) Viele denken, dass so banale Strategien wie die Einnahme von Vitamin D, Omega 3 oder ein kleines Training kaum etwas bewirken können. All unsere Vorstudien weisen aber darauf hin, dass es so ist. Es ist nur schwierig, solche Studien zu finanzieren. Die Pharmaindustrie interessiert sich für Strategien, für die man sich ein Patent sichern kann. Das geht nicht für Vitamin D oder Omega-3-Fette. Es sind öffentliche Gelder, die solche Studien finanzieren. Im Falle der Do-Health-Studie sind es zu einem grossen Teil die EU und die Universität Zürich.

Falls Ihre Studie erfolgreich ist, wie wollen Sie dann die Bevölkerung dazu bringen, Fitnessübungen zu machen oder Vitamine zu schlucken?
Wenn es sich zeigt, dass die Massnahmen tatsächlich wirksam sind und sich damit Kosten sparen lassen, werde ich mit den Ergebnissen die Gesundheitspolitik stürmen. Es braucht dann die Gesundheitspolitik, die sagt, dass diese Massnahmen von den Krankenkassen bezahlt werden müssen. So dass der Hausarzt diese auch verschreiben kann. Der Effekt ist enorm: Neue Modellrechnungen aus den USA zeigen, dass eine Erhöhung der gesunden Lebenserwartung um 2 Jahre in den USA über 50 Jahre 7 Billionen Dollar im amerikanischen Gesundheitssystem einsparen könnte.

In Zürich wurde kürzlich ein Geriatrie-Verbund gegründet, den Sie leiten. Was erhoffen Sie sich davon?
Zürich hat die Chance, ein modernes Alterskonzept zu entwickeln und eine moderne Altersmedizin zu bieten, indem wir die Kräfte der verschiedenen Institutionen bündeln. Es geht darum, dass wir Forschungslücken schnellstmöglich schliessen und dass unsere Patienten so bald wie möglich von den neuen Erkenntnissen profitieren können. Auf der anderen Seite ist es auch wichtig, dass wir genügend Geriater ausbilden. Dank dem Verbund können wir jungen Ärzten ein attraktives Curriculum bieten. Weil es in der Geriatrie noch so viel zu erforschen gibt, hat man als junger Mediziner eine Chance, wirklich noch Spuren zu hinterlassen, Neues zu finden. Das ist in anderen Fachgebieten sehr viel schwieriger. Wir hoffen, dass wir so den Nachwuchs stärken können.

Haben Sie Angst vor dem Älterwerden?
Ich bewundere die älteren Menschen: Wer sich trotz Arthroseschmerzen und Bewegungseinschränkungen jeden Tag nach draussen aufmacht, trotz Sturzrisiko mit dem Tram fährt, ist ein absoluter Held. Ich habe nicht Angst vor dem Älterwerden. Ich möchte einfach erfolgreich älter werden. Ich versuche einiges dazu beizutragen. Ich schaue, dass ich einen Teil zur Arbeit zu Fuss gehe, ernähre mich gesund und nehme selbst Vitamin D, da ich zu selten an die Sonne komme. Ich hoffe, dass ich flexibel und autonom bleiben kann. Ich wünsche mir, offen zu bleiben und dass ich nicht alleine bin. Und ich wünsche mir, dass ich eine wilde Alte werde, die macht, was sie will (lacht).

Neuer Verbund in der Altersmedizin und eine riesige Studie
Im Februar wurde in Zürich ein neuer Geriatrie-Verbund gegründet. Dazu gehören die Klinik für Geriatrie am Universitätsspital Zürich (USZ), die Klinik für Akutgeriatrie am Stadtspital Waid sowie das Pflegezentrum Käferberg. Zusammen verfügen die Standorte über 160 Betten. Die akademische Leitung hat Heike Bischoff-Ferrari, die ausserdem den Lehrstuhl für Geriatrie an der Universität Zürich leitet sowie die Direktorin der Klinik für Geriatrie am USZ und Leiterin des Zentrums für Alter und Mobilität ist. Der Verbund soll nun in mehreren Etappen aufgebaut werden. Geplant ist, in einem nächsten Schritt auch die Spitex zu integrieren.
Ziel dieser neuen Kooperation in der Altersmedizin ist es, neue diagnostische und therapeutische Konzepte zu entwickeln sowie den ärztlichen und pflegerischen Nachwuchs in der Altersmedizin zu fördern. Auch soll die Überweisung der Patienten in die Institutionen für die Nachbehandlung verbessert werden.
Von Zürich aus leitet Heike Bischoff-Ferrari zudem auch Europas grösste Studie in der Altersforschung. Sie nennt sich Do-Health und startete im Dezember 2012; bis im Sommer 2018 sollen konkrete Ergebnisse vorliegen. Über 2000 Senioren, die über 70 Jahre alt sind, nehmen in fünf Ländern daran teil. Während dreier Jahre nehmen sie Vitamin D und/oder Omega-3-Fettsäuren und/oder absolvieren ein leichtes Trainingsprogramm. Untersucht wird, ob dies einen positiven Effekt auf die Gesundheit der Probanden hat, konkret, ob diese Massnahmen für sich oder in Kombination das Knochenbruchrisiko senken, die Muskelfunktion erhalten, den Blutdruck positiv beeinflussen, das Infektionsrisiko senken und die Gedächtnisfunktion erhalten. Die Probanden werden alle drei Monate telefonisch nach ihrem Befinden und allfälligen Arztvisiten befragt und einmal im Jahr zu einer ganztägigen ärztlichen Untersuchung aufgeboten. Für die Studie steht ein Budget von 12 Millionen Euro zur Verfügung.

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